Corona / Finanzierung / Gesundheitssystem

Die fetten Jahre sind vorbei

Keine Frage: Das Sars-CoV2-Virus hat die Welt auf den Kopf gestellt. Nie dagewesene Hilfsprogramme – aus Zuschüssen, Krediten, Anleihen und Steuersenkungen – auf EU- wie auf Bundesebene werden in kürzester Zeit aufgelegt und durch die Parlamente gebracht. Zugegeben, bei Frau von der Leyen stellt es sich in der Auseinandersetzung mit den „sparsamen Vier“ (Österreich, Schweden, Dänemark, Niederlande) komplizierter dar – allen gemeinsam ist, Maastricht-Kriterien oder die sogenannte schwarze Null gehören auf absehbare Zeit erst einmal der Vergangenheit an.

Und wie in allen Krisen versuchen Interessengruppen mit besonders hohen Forderungen auf sich aufmerksam zu machen: In unserem Gesundheitssystem sind das die Krankenhäuser, sie hoffen jetzt auf eine verbesserte Finanzausstattung. Die niedergelassenen Ärzte verlangen nach Kompensation für den Patientenschwund in ihren Wartezimmerns während des Lockdowns und alle die mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen ihr Geld verdienen, erleben ohnehin einen kräftigen Rückenwind. Höhere Löhne für die Pflegeberufe waren bereits vor Corona Konsens und jetzt inmitten der Pandemie würde sich wohl niemand gegen einen anständigen Aufschlag für die Pflegebranche aussprechen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Und ja, wer denkt beim Löschen eines Brandes schon daran, was der Wiederaufbau kostet? Doch der gesundheitspolitisch interessierte Beobachter erahnt bereits jetzt, dass die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in den nächsten Jahren vor ungeahnten Herausforderungen steht.

Erinnern wir uns: Vor Corona trieb Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Krankenkassen dazu, ihre Rücklagen aufzubrauchen: 2019 hatten die gesetzlichen Krankenversicherungen 19,8 Milliarden Euro zur Seite gelegt.

Ob Pflegepersonal-Stärkungsgesetz oder das Terminservice und Versorgungsgesetz – Spahn griff in die Vollen, Kostendämpfungsgesetze waren die Angelegenheiten seiner Vorgänger.

So brachte er die GKV dahin, 1,5 Milliarden von den Rücklagen aufzubrauchen. Parallel dazu stiegen Die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen stiegen insgesamt von 2018 zu 2019 um 5,2 Prozent auf 251,9 Milliarden Euro.

Wie die Ausgabenentwicklung sich im nächsten Jahr für die Gesetzliche Krankenversicherung darstellt, kann allenfalls in spekulativen Hochrechnungen dargestellt werden, besonders auch vor dem Hintergrund, dass derzeit noch niemand weiß, ob die Epidemie dann als bewältigt eingestuft werden kann. Klar ist jedoch, der Rettungsschirm für die Kliniken, Corona-Tests, Schutzausrüstungen und die Bugwelle der verschobenen Operationen lassen das Ausgabenvolumen noch einmal deutlich anwachsen.
Bei alledem sollen die Beitragssätze für Arbeitsnehmer und Arbeitgeber nicht steigen, um die gebeutelte Wirtschaft nicht weiter zu belasten. Ohne kräftige Zuschüsse vom Bund wird es nicht gehen. Deutlich wie durch ein Brennglas zeigt sich wieder einmal, dass die Reformbaustelle Gesetzliche Krankenversicherung alles andere als zukunftsfest abgearbeitet wurde.

Eine Studie der Robert-Bosch-Stiftung, die jüngst Reformvorschläge für das Gesundheitswesen ermittelte, fördert beispielsweise zu Tage, dass 69 Prozent der Befragten in „etlichen Bereichen Änderungsbedarf“ sehen. 49 Prozent der Teilnehmer dieser Studie sprachen sich unter anderem dafür aus, dass die Kosten zur Systemsicherung gerechter verteilt sein sollten und dass die bisherige Trennung zwischen gesetzlicher und privater Versicherung aufgehoben werden sollte
(Tagesspiegel vom 13. Juni 20202).

Und wer hat nicht schon die Erfahrung im eigenen privaten Umfeld oder bei Kollegen/Freunden gemacht. Das Leistungsversprechen der Gesetzlichen Krankenversicherung ist teilweise überaus intransparent und ungerecht: Wer sich zu wehren weiß, bekommt mehr Leistung. Das ist wenig solidarisch – um einmal mit dem „Lieblingsbegriff“ der Sozialbürokraten zu sprechen.

Auch wenn sich die Anzahl der Krankenkassen von über 1.000 (!) in den neunziger Jahren auf nunmehr 105 Krankenkassen verringert hat, ändert dies nichts daran, dass das System immer noch an strukturellen Webfehlern der Vergangenheit krankt. Jens Spahn hat dies erst vor kurzem wieder erleben müssen, als er im geplanten Faire-Kassenwahlgesetz die bundesweite Öffnung der landesweiten AOKen durchsetzen wollte – ohne Erfolg.
Ja, es ist richtig: Wir werden weltweit um unser Sozialsystem und damit auch um unsere Gesetzliche Krankenversicherung beneidet. Die Amerikaner und viele andere können in diesen Zeiten ein Lied davon singen. Und doch müssen wir uns fragen, ob unser System der Krankenversicherung – und die europaweit einmalige Koexistenz von Privater und Gesetzlicher Krankenversicherung – noch in einen modernen Sozialstaat passt. Spätestens wenn die Babyboomer-Generation in Rente geht – denn es ist diese große Alterskohorte, die unseren Sozialstaat finanziert – wird es zu grundlegenden Reformen in der Krankenversicherung kommen müssen.

Bis auf die Bürgerversicherung höre ich aus dem gesundheitspolitischen Raum da wenig. Und Sie? Was ist Ihre Meinung? Ist unser System der Krankenversicherung gerecht? Werden wir uns weiterhin ein Gesundheitssystem leisten können, dass zu einem der besten der Welt gehört, aber auch eines der teuersten ist? Ich bin gespannt auf Ihre Meinung. Schreiben Sie mir!

Ihr,
H.-P. Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt ist Experte für Krankenhäuser im Strukturwandel. Der Arzt und Manager gründete 1998 zusammen mit Dorit Müller die Unternehmensberatung JOMEC GmbH Healthcare Consulting+Management. Mit der Erfahrung von mehr als 25 Jahren in der Führung und Beratung im Gesundheitswesen will er nun mit dem Blog das Thema Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung setzen.