Die wichtigsten gesundheitspolitischen Positionen für den Koalitionsvertrag der Ampel!

FDP, Grüne und SPD postulieren für die nächsten 4 Jahre eine neue politische Ära. Wichtige Stichworte auf dem Weg sind Nachhaltigkeit, Wertschätzung, und wirtschaftliche Erneuerung. Ganz oben auf der Agenda muss die gesundheitliche und pflegerische Versorgung der Menschen stehen. Corona hat gezeigt, wie verletzlich und unvorbereitet Deutschland war und wo unsere Defizite liegen. Gerettet haben uns die vielen Profis in allen Berufsgruppen in den Regionen, die pragmatische Maßnahmen erarbeitet und umgesetzt haben.

Dennoch gefährdet der Fachkräftemangel in vielen Regionen die Gesundheitsversorgung.
Jeden Tag kämpfen Menschen um ihre persönliche Gesundheit, um die richtige Behandlung, die notwendigen Hilfsmittel oder den nächsten Termin beim Arzt, den freien Pflegeplatz oder die notwendige Reha-Maßnahme. All diese Defizite müssen jetzt angegangen werden, wir müssen die Prozesse neu denken und die starren bürokratischen Hürden auflösen.

Dazu muss sich die Koalition auf folgende Eckpunkte verständigen:

1. Regionale Vernetzung der Sozialgesetzgebung wagen

Die verschiedenen Sozialgesetzbücher (SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung, SGB VI Gesetzliche Rentenversicherung, SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung, SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, SGB XI – Soziale Pflegeversicherung) sind in der Verwaltungsstruktur (Behörden, Leistungserbringer) strikt getrennt. Im täglichen Alltag erleben die Menschen den Kampf mit dieser Unterschiedlichkeit. Die Verknüpfung der Leistungsinhalte zur Sicherung einer durchgängigen Versorgung und Betreuung sind bisher kaum möglich.

Aber auch in der Qualität der Versorgung sind Arbeitsverunfallte bessergestellt. So werden Berufsunfälle (SGB VII) im BG-System auf höchstem Niveau behandelt, rehabilitiert und am Ende auch berentet.

Der Normalpatient muss den quälenden Gang der Zuständigkeiten auf sich nehmen: Akutbehandlung (SGB V) durch den Arzt oder die Klinik, Rehabilitation (SGB IX) durch Rehakliniken oder ambulante Reha oder für den Fall der Pflege (SGB XI) mit unterschiedlichen Behörden und Institutionen. In der Praxis ist der Übergang zunehmend schwierig, da jeder Sektor seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, zugelassenen Behandler und Strukturvorgaben hat. In der ambulanten ärztlichen Versorgung werden die Fachgebiete von den Ärzten selbst (KV) geplant. Für die Kliniken planen die Landesregierungen. Für die Pflege und die Rehabilitation gibt es überhaupt keine Planung, aber viele Hürden.
Notwendig ist daher eine Neuausrichtung der medizinischen, pflegerischen und rehabilitativen Versorgungsplanung. Am besten findet das eng mit den Versorgungsregionen statt, nur so kann die regionale Lage angemessen berücksichtigt werden. Dazu müssen Politik, die gesetzliche Krankenversicherung und die Leistungsanbieter regional Vereinbarungen für die Versorgung der Bürger schließen. Die bürokratischen Grenzen zwischen den Leistungsbereichen müssen aufgehoben werden und einer ganzheitlichen Steuerung weichen. Dazu wird auch die Planungshoheit der ambulanten Versorgung durch die Kassenärztlichen Vereinigung aufgehoben und an eine regionale „Planungskommission Gesundheit“ übertragen. Durch die Regionalisierung der Planungshoheit werden auf Grundlage bundeseinheitlicher Planungs- und Vergütungsvorgaben die Versorgungsstrukturen ausgestaltet. Beplant werden ausschließlich systemrelevant vorzuhaltende Versorgungsstrukturen, die dann auch differenziert finanziert werden.

2. Mit Digitalisierung entbürokratisieren

Die digitalen Möglichkeiten müssen vor allem dazu genutzt werden, unnötige bürokratische und teure Verwaltungsstrukturen abzubauen.
Im Rahmen der gesetzlichen verbrieften Kassenleistungen kann und muss die Verwaltung entschlackt und verschlankt werden. Es ist das Ziel, die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen auf eine Kasse je Bundesland zu reduzieren. Den Bürgern wird ermöglicht alle verwaltungstechnisch notwendigen und dann vereinfachten Anträge oder Verwaltungsvorgänge digital oder per Telefon abzuwickeln.
Die ungeheuren Einsparungen stehen für die Neuordnung der regionalen ganzheitlichen Versorgungssicherung und für die erstklassige medizinische Ausstattung (Auflösung des Investitionsstaus) zur Verfügung.

3. Private Krankenversicherung ist Teil des Solidarsystems

Die private Krankenversicherung stellt eine wichtige Säule der Finanzierung der Gesundheitskosten dar. Die besonderen und selbst zu finanzierenden Leistungsangebote können weiterhin im Rahmen einer Voll- oder einer privaten Zusatzversicherung abgeschlossen werden. Privatversicherte führen über ihre Krankenversicherung einen zu kalkulierenden Sicherstellungsbeitrag an das gesetzliche Krankenversicherungssystem ab. Privatversicherte haben jederzeit die Möglichkeit in die gesetzliche Krankenversicherung zu wechseln. Die privaten Krankenversicherer werden in dem Fall verpflichtet, dem gesetzlichen Krankenversicherungssystem die bis dorthin gebildete Rückstellungen zu übertragen.

4. Stabile und wertschätzende Vergütungssysteme

Die Vergütungssysteme sind seit vielen Jahren Anlass für Diskussionen, Unzufriedenheiten und Betrugsvorwürfe. Gesundheit ist Vertrauenssache. Entscheidungen müssen sich ausschließlich am Wohl der Patienten orientieren. Seit 20 Jahren setzt die Politik jedoch andere Anreize. In den letzten Jahren wird zunehmend versucht die Folgen mit einer überbordenden und demotivierenden Bürokratie und unwürdigen Vorhaltungen abzumildern.
Wir wollen, dass die Menschen die im Rahmen der notwendigen wohnortnahen Gesundheitsversorgung eine optimale Behandlung erhalten. Daher soll das Vergütungssystem umgebaut werden. Regional werden über alle Leistungsbereiche des SGB „systemrelevante“ Einrichtungen und ambulante Strukturen vorgesehen. Systemrelevante Angebote werden zum einen über die Vorhaltung von Gesundheitsangeboten (Fixkosten) finanziert und zum anderen werden Anreize für eine wirtschaftliche Leistungserbringung gesetzt. Hierzu soll das DRG-System bei den systemrelevanten Behandlungspartnern grundsätzlich als Instrument der Gesamtbudgetermittlung und zur Abgrenzung besonderer, überdurchschnittlicher Finanzierungstatbestände genutzt werden. In Regionen mit starkem Wettbewerbseinfluss (z.B. Hochlohnland Schweiz) wird zur Versorgungssicherung eine verbesserte Lohngestaltung möglich.

5. Digitalisierte Medizin

Die Digitalisierung der Medizin ist in vollem Gang. Täglich entstehen neue Digitalangebote. Hingegen funktioniert die Vernetzung der Kliniken oder Ärzteschaft auf Grundlage einheitlicher Standards leider nicht. Die Koalition wird für alle Anbieter einheitliche Kommunikationsstandards gesetzlich definieren und damit die tiefe Integration (Vernetzung) der Systeme sicherstellen. Diese Kommunikations-Standards müssen von allen Anbietern kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Dies betrifft sowohl die Medizintechnik als auch die Anbieter von Arztpraxis und Klinikinformationssystemen.
Die zentrale digitale Gesundheitsakte wird mit dem Ziel weiterentwickelt, den Bürgern die Steuerung und Bereitstellung ihrer Gesundheitsdaten zu ermöglichen. Dazu werden entsprechend Qualitätsstandards bei der Erhebung der Gesundheitsdaten definiert. Die wissenschaftliche Nutzung pseudonymisierter Daten soll zum gesellschaftlichen Nutzen möglich sein.

6. Pandemievorsorge

Notwendige Maßnahmen zur Pandemievorsorge werden an die systemrelevanten Einrichtungen gekoppelt. Damit wird sichergestellt, dass die notwenigen Vorhaltekosten im Rahmen der regionalen Planung berücksichtigt werden und im Bedarfsfall vor Ort vorhanden sind. Durch die enge Anbindung an die Regelversorgung wird der Lagerumschlag der Artikel sichergestellt und damit der Lagerverwurf aufgrund der Haltbarkeitsdaten begrenzt.

 

Mit den grob skizzierten Maßnahmen kann der Aufbruch in die verbesserte Versorgungssituation in den Regionen geschafft werden. Die kooperative und wertschätzende Entwicklung der Gesundheitsversorgung wird durch die bundesweit einheitlichen Rahmenbedingungen mit einer Umsetzung entlang der regionalen Notwendigkeiten deutlich verbessert. Damit kann auch dem Druck des Fachkräftemangels durch Attraktivitätssteigerung entgegengewirkt werden. Die Beteiligung der Privatversicherten an der Vorhaltung der Versorgungsstrukturen, sowie die Sicherung der unbeschränkten Wechselmöglichkeiten, stärkt die Entscheidungsfreiheit der Menschen und trägt zur Stabilisierung des Gesamtsystems bei.

Durch die Digitalisierung der Verwaltungsstrukturen werden zudem schnell die notwendigen Mittel zur finanziellen Entlastung gehoben und die Entwicklung neuer Angebote durch gesetzliche verpflichtende Kommunikationsstandards gesichert.

Dr. Hans-Peter Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt ist Experte für Krankenhäuser im Strukturwandel. Der Arzt und Manager gründete 1998 zusammen mit Dorit Müller die Unternehmensberatung JOMEC GmbH Healthcare Consulting+Management. Mit der Erfahrung von mehr als 25 Jahren in der Führung und Beratung im Gesundheitswesen will er nun mit dem Blog das Thema Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung setzen.