Arzthopping / Gesundheitssystem

Kein Eintrittsgeld beim Arzt – Systemumbau statt Abzocke!

Die Gesellschaft wird immer älter und deswegen muss sie öfters zum Arzt. Klingt doch logisch! Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Wir Deutschen – das ist wissenschaftlich erwiesen – gehen häufiger zum Arzt als jede andere Nation.

Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem vergangenen Jahr bestätigt „die außergewöhnlich hohe Konstanz bei der Anzahl von Arztbesuchen“. Weiter heißt es: „Etwas mehr als die Hälfte der Versicherten war drei- bis zehnmal und rund jeder Sechste war häufiger als zehnmal beim Arzt“. Immerhin noch vier Prozent der Versicherten gaben an mehr als 20 Mal beim Arzt gewesen zu sein.

Unsere Nachbarn, die Niederlande oder Dänemark, lassen sich nur sechs bis siebenmal beim Arzt blicken und leben genauso lange wie wir. Der neue Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, setzt deswegen direkt zu Beginn seiner Amtszeit ein Zeichen und bringt eine Selbstbeteiligung der Patienten beim Arztbesuch ins Spiel, um die „Ressource Arzt“ zu schonen, wie er sagt.

Dieser Vorstoß geht zunächst in die richtige Richtung. Warum? Weil nicht immer die im Wartezimmer sind, die es nötig haben. Seit Jahren wird eine schwindende Gesundheitskompetenz bei den Patienten beobachtet. Davon wissen die Notaufnahmen der Kliniken genauso zu berichten wie die Ärzte in ihren Praxen.

Da ist die junge, unerfahrene Mutter, die ihr Kind mit einer minimalen Schürfwunde in die Notaufnahme bringt. Oder der Mittvierziger, der leichte Erkältungssymptome für eine gefährliche Influenza hält. Dr. Google und Co lässt grüßen! Schier unüberschaubare sogenannte Gesundheitsinformationen, führen zu mehr Desinformation und Selbstdiagnosen. Websites über denen dick „Werbung“ prangen müsste, kommen ganz vermeintlich seriös als unabhängige Medizinportale oder Websites von Selbsthilfegruppen daher. Nirgends ist die Vielfalt und die Güte der Informationen unübersichtlicher als im Gesundheitswesen. Auch ältere Menschen, die im Grunde „nur“ die Ansprache, den Kontakt suchen, haben in der Arztpraxis nichts zu suchen. Sie gehören in die Angebote von Sozialdiensten, Vereinen, Kirchen, was auch immer.

In einem kürzlich erschienenen sehr lesenswerten STERN-Artikel beschreibt der Autor, dass vielen Menschen das Vertrauen in ihren Körper abhanden gekommen ist. Hinter dem früher oft zitierten „Wird schon wieder!“ steht ja nichts anderes als „Warte mal ab“, das eine oder andere Zipperlein verschwindet meist so schnell wie es gekommen ist. Mehr Gelassenheit im Umgang mit sich selbst und anderen ist eine Tugend, die heute scheinbar abhanden gekommen ist. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich plädiere nicht dafür, einen Arztbesuch aufzuschieben. Gesundheitliche Sorgen müssen abgeklärt werden.

Doch heute können Patienten Ärzte wechseln, so oft sie wollen. Manche weil sie die Wahrheit nicht hören wollen, manche weil sie ihrem Arzt nicht glauben, weil sie einfach einen Arzt für die Krankschreibung brauchen oder zukünftig, weil die Symptome in einer App auf einer Krankheit hinweisen, die der Arzt im persönlichen Kontakt nicht diagnostiziert hat. Wer glaubt, dass Gesundheits-Apps zu weniger Arztbesuchen führen, wird das Gegenteil erleben.

Dieses Verhalten ist Ausdruck einer verfehlten Gesundheitserziehung. Wie in vielen anderen Lebensbereichen auch wird uns vorgegaukelt, dass es für jedes Problem vermeintlich eine Lösung durch Dritte gibt. Wo lernen unsere Kinder was Gesundheit bedeutet? Wie sie gefördert wird, welche Entwicklungen im Laufe des Lebens stattfinden? Wie aktualisieren wir unser Wissen über unsere Gesundheit? Lernen wir unserem Körper zu vertrauen, seine Signale zu hören?

Sind wir wirklich auf dem Weg in eine lernende Gesellschaft? Sind wir leider nicht! Alles wird vereinfacht, nichts darf anstrengend und fordernd sein. Jede Lösung muss von außen kommen. Selbstverantwortung und Lebenskompetenz werden delegiert. Kein Wunder also, dass die Praxen und Notaufnahmen häufig überfordert sind.

Wie können wir also eingreifen und die Ressourcen schützen? Geht es lediglich um die Zahl der Praxisbesuche oder geht es vielleicht auch um Ressourcenschonung insgesamt?

Ich bin gegen eine Praxisgebühr. Sie wird nicht verhindern, dass Menschen mit ihren Ängsten geholfen werden muss.

Besser wäre es, meiner Meinung nach folgende Modelle aufzusetzen:

  • Modell 1: Alle Patienten sollten sich bei einem Arzt für Allgemeinmedizin (Hausarzt) verbindlich einschreiben, jeweils für ein Jahr. Jeder Arzt muss eine gewisse Zahl von Patienten annehmen und betreuen. Patienten, die sich nicht einschreiben, wird ein Arzt in ihrer Nähe als erster Ansprechpartner zugewiesen. Von dort geht es ggf. per Überweisung weiter zum Facharzt. Dieses Modell verpflichtet die Arztpraxen auch zur Patientenversorgung, was in der Zeit knapper Ressourcen wichtig ist. Die Hausärzte können die besuchsintensiven Patienten am besten steuern und gegebenenfalls gute Kooperationen mit Sozialdiensten etc. entwickeln.
  • Modell 2: Die Patienten können beliebig viele Ärzte aufsuchen, die Krankenkassen zahlen und führen ihre Versicherten, entwickeln Anreizsysteme, um Ärztehopping zu vermeiden oder alternative Angebote. Die Aufgabe der Krankenkassen wäre es, Sorge zu tragen, dass die Versicherten nicht alle Leistungen mehrfach abrufen, die von allen Versicherten in unserem System finanziert werden. Vielleicht finden die Krankenkassen auch einen Weg, die Zahl der Arztbesuche durch den Erstbesuch bei einer qualifizierten Fachschwester oder doch einer App zu umgehen?

Allerdings sollten wir einen wichtigen Punkt sofort angehen: Der unnötige Besuch in der Notaufnahme eines Krankenhauses sollte in Abhängigkeit vom Anlass und der Notwendigkeit der Akutbehandlung kostenpflichtig sein und alle Kliniken müssen umfänglich für die ambulante Behandlung ermächtigt werden. Was nicht in die Notaufnahme gehört, wird im Rahmen der Triage (Ersteinschätzung) aufgedeckt und an den Hausarzt/Facharzt verwiesen. Wer dennoch bleiben will, muss sich nach den „echten“ Notfällen einreihen, warten und 50 Euro zahlen. Notaufnahmen der Krankenhäuser sind heute noch kein Praxisersatz, sondern ein Zentrum für Notfälle, vorwiegend von stationär aufzunehmenden Patienten.

Insgesamt ist unser Gesundheitssystem und sein Anreizsystem sehr komplex. Die Praxisgebühr ist weder innovativ, noch wirkt sie steuernd. Der Verwaltungsaufwand wird den Arztpraxen aufgedrückt. Doch gerade dort besteht zunehmend der Engpass.

Was ist Ihre Meinung? Ist eine Selbstbeteiligung beim Arztbesuch sinnvoll oder ungerecht? Gehen wir zu oft zum Arzt und überfordern damit unser Gesundheitssystem? Schreiben Sie mir! Ich bin gespannt auf Ihre Meinung.
Ihr,

H.-P. Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt ist Experte für Krankenhäuser im Strukturwandel. Der Arzt und Manager gründete 1998 zusammen mit Dorit Müller die Unternehmensberatung JOMEC GmbH Healthcare Consulting+Management. Mit der Erfahrung von mehr als 25 Jahren in der Führung und Beratung im Gesundheitswesen will er nun mit dem Blog das Thema Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung setzen.