Ärzteappel / Gesundheitssystem / Reform / Stern

Krankenhäuser sind keine Profitcenter

Im Juni 1971 – es ist also 48! Jahre her – erregte der STERN mit einer Kampagne in Deutschland beispielloses Aufsehen als 374, darunter teils prominente Frauen wie Romy Schneider oder Senta Berger, öffentlich machten, dass sie schon einmal eine Abtreibung hatten vornehmen lassen oder diese zumindest planten. Diese STERN-Titelgeschichte war buchstäblich in aller Munde: Deutschland diskutierte hitzig auf dem Höhepunkt der Frauenbewegung über die Abschaffung des Paragrafen 218. Mit dem Ergebnis, dass der Paragraf 218 zwar nicht vollständig abgeschafft, aber zumindest reformiert wurde.

Heute fast 50 Jahre danach stößt der STERN wieder eine Kampagne an: Dieses Mal sind die „Kronzeugen“ einer gesellschaftlich-kritischen Entwicklung 215 Ärzte und inzwischen 25 Organisationen wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, die Berliner, Hamburger und die Niedersächsische Landesärztekammern. Aber auch der Ärztliche Direktor der Münchner LMU Uniklinik, Prof. Karl-Walter Jauch. Alles in ihrer Profession respektable, unverdächtige Personen und Institutionen des medizinischen Lebens, die sich unter dem Slogan „Rettet die Medizin“ zusammengeschlossen haben.

Gerade sie klagen eine beispiellose Ökonomisierung unseres Gesundheitssystems an – und nennen Ross und Reiter. Ihr Hauptkritikpunkt: Das seit 2003 eingeführte Fallpauschalensystem. Es ist ein Preissystem nach dem die Krankenhäuser medizinische Leistungen abrechnen. Eine künstliche Hüfte kostet etwa 15.000 Euro und eine Geburt mit Kaiserschnitt 3.000 Euro.

Nicht mehr der Patient und seine Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Immer schwingt im Hintergrund der finanzielle Nutzen und die überbordende Bürokratie mit. Das führt zu Verzerrungen. Ein ähnliches System haben wir bei der ambulanten Patientenversorgung. Auch hier sind die Anreize in Richtung Leistungssteigerung gesetzt. Nur kontrolliert das niemand. Weil die Kassenärztliche Vereinigung (also die Vertretung der ambulant tätigen Ärzte) sich selbst kontrolliert und das mit teilweise abstrusen Auswirkungen.

Das Machen wird belohnt, nicht das Ergebnis, nicht die Zufriedenheit der Patienten, nicht die ärztliche Begleitung in existenziellen Lebenskrisen. In einem solchen monetär ausgerichteten Gesundheitssystem steigt das Risiko für „Überbehandlung“, also Leistungen, die der Patient nicht wirklich benötigt. Juristisch gesehen, ist das Körperverletzung. Letztlich ist aber der Patient nicht in der Lage zu wissen, welche Untersuchungen oder Operationen wirklich notwendig sind. Er muss dem Arzt Vertrauen.

Nicht alles, was in der Behandlung möglich ist, entspricht auch dem Herzenswunsch der Patienten. Diesen aber herauszufinden, den Patienten entscheidungsfähig zu machen und ihn entsprechend zu begleiten, ist in unserem Gesundheitssystem verloren gegangen.

Das System hat sich in seinen negativen Anreizen verselbstständigt und produziert am laufenden Band Fehlanreize zu Lasten der Patienten. Das muss dringend geändert werden. Viele verantwortungsvolle Ärzte stehen nun endlich gegen diesen Missstand auf.

Die Haltung, Ziele und Anreize sind in anderen Gesundheitssystemen ganz anders gesetzt. Der Patient steht im Mittelpunkt – Medizin und Ethik können eine Einheit bilden! Als Mitglied des Internationalen Steering Committee des Südtiroler Sanitätsbetriebs in Bozen, sehe ich immer wieder: Es geht auch anders. Jedes System hat Licht und Schatten, aber ganz vorne muss das Wohl des Patienten stehen und nicht das Geld. Interessant: Obwohl die Provinz Südtirol den Patienten in den Mittelpunkt stellt, liegen die Kosten pro Einwohner rund 30 Prozent unter denen in Deutschland. Das zeigt: Ein Leistungswettbewerb in der Medizin führt nicht – wie immer propagiert – zu mehr Effizienz und Sparsamkeit, sondern zu „Überbehandlung“ und explodierenden Kosten.

In Deutschland stehen Krankenhäuser unter einem zum Teil nicht mehr verantwortbaren Druck betriebswirtschaftlich zu arbeiten. Jedes Jahr müssen sich die Kliniken den zentral kalkulierten Preisanpassungen stellen, egal welche Rahmenbedingungen vor Ort herrschen. Sie sind von der Politik zu Profitcentern gemacht geworden – trägerübergreifend, ganz gleich ob Kommunen die Häuser betreiben, kirchliche Träger oder private Unternehmen.

Die Auslastung der Stationen wird heute so penibel verfolgt wie große Hotelketten die Belegungsquote ihrer Zimmerauslastung monitoren. Zu behandelnde Krankheiten, Unfälle, Verletzungen erhalten in unserem Gesundheitssystem einen Warencharakter. Das ist schlicht pervers.

Deswegen ist der STERN-Ärzteappell so wichtig. Es wird Zeit, die Fehlsteuerungen im System zu beheben. Dazu gehört auch, die Krankenhäuser nicht, sich selbst zu überlassen. Die Politik muss eine demografiefeste Krankenhausplanung auf kommunaler Ebene hinbekommen. Krankenhäuser nehmen sich nicht selbst vom Netz. Das muss sinnvoll gesteuert werden. Dann jagen sich die Häuser auch nicht mehr Fälle und dringend benötigtes Fachpersonal ab.

Aber auch wir alle, Versicherte und Patienten, sind gefragt. Wir sollten uns dazu äußern, was für eine medizinische Versorgung wir haben wollen. Wir überlassen die Gesundheitspolitik den Krankenkassen, Verbänden und Krankenhausträgern. Dabei geht es um unsere Gesundheit! Noch sind wir passive Konsumenten und nehmen die Defizite des Systems als gottgegeben hin, aber was für die Umwelt geht, muss auch für unsere Gesundheit gehen.

Ich hoffe deswegen sehr, dass der STERN-Ärzteappell endlich eine gesamtgesellschaftliche Debatte über unsere medizinische Versorgung anstößt. Wir brauchen diese Debatte, nur dafür ist mein Laut-Blog entstanden. Machen Sie mit! Schreiben Sie mir! Welche Erfahrungen haben Sie in unserem Medizinbetrieb gemacht? Oder teilen Sie meine Positionen?

Ich freue mich auf Ihre Reaktionen.
Ihr,

H.-P. Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt ist Experte für Krankenhäuser im Strukturwandel. Der Arzt und Manager gründete 1998 zusammen mit Dorit Müller die Unternehmensberatung JOMEC GmbH Healthcare Consulting+Management. Mit der Erfahrung von mehr als 25 Jahren in der Führung und Beratung im Gesundheitswesen will er nun mit dem Blog das Thema Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung setzen.