Corona / lockdown

Lock down – leben oder sterben wir?

Liebe Lautblog-Leserinnen und Leser,

der nächste Lockdown wird vollzogen. Ziel ist, die zweite Welle zu brechen, um die Zahl der Neuinfektionen wieder unter 50 pro 100.000 zu drücken und die befürchtete Überlastung im Gesundheitswesen zu verhindern.

Ob und zu welchem Zeitpunkt welche Maßnahmen sinnvoll sind, darüber lässt sich trefflich streiten. Verlässliche Forschungsergebnisse hierzu gibt es eigentlich keine, dafür aber unendlich viele Meinungen und die Erfahrung aus einem vollständigen lock down. So wird nun weiter nach dem erwarteten Bedrohungsszenario kommuniziert und entschieden.

Was aber in allen Betrachtungen außen vor bleibt, sind die Toten, die eigentlich nicht hätten sterben müssen. Es trifft die ängstlichen, einsamen und isolierten Menschen. Erstaunlich, die Angst vor der Infektion, die Angst vor der Ansteckung brachte den Tod fast ebenso häufig wie das Virus.

Medien und Politik schüren Ängste, halten damit die Menschen wachsam und sich selbst und viele Experten im Gespräch. Der Tod als dunkles und bedrohliches Szenario darf nicht kommen, auch nicht, wenn objektiv und im Mittel der Lebenserwartung die Zeit gekommen ist. Der Tod macht Angst.

Politisch und medial muss der Tod mit allen Mitteln bekämpft werden. Jede Bedrohung des Lebens muss ausgelöscht werden. Jede Aktion, jede Reise, jede Sportart, unser Essen, Getränke unsere individuellen Laster insgesamt – das ewige Leben soll irdisch werden.

Diese durchaus irrige Vorstellung beherrscht die öffentliche Kommunikation und ist der Treibsatz medialer Aufmerksamkeit in fast allen gesellschaftlichen Themenfeldern. Vor lauter Angst vergessen wir, dass leben mehr ist als atmen.

Ist es politische Aufgabe über die Art und Weise – oder die Risiken des individuellen Lebens zu entscheiden? Selbst die Entscheidung eines selbstbestimmten Todes liegt laut Bundesverfassungsgericht beim Individuum selbst.

Darf den Menschen daher die Gemeinschaft, persönliche Laster, etc. durch die politischen Verantwortungsträger genommen werden?

Transparenz, Offenheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind die Errungenschaften freier und aufgeklärter Gesellschaften. Können, dürfen und müssen wir das auch in einer Krise wie dieser Pandemie leben?
Kann und will Jeder einzelne Verantwortung übernehmen – für sich selbst und andere?

Ist der medial befeuerte Druck auf ein einheitliches und mit harter Hand geführten Land die richtige Antwort? Darf es wirklich in einer föderalen Struktur am Ende das Machtwort einer Person geben? Wo bleibt der Wettbewerb um die besten Konzepte? Nur dadurch können wir die besten Wege finden und laufen nicht wie die Lemmige durchs Leben.

In der zweiten Welle führen heute noch die Jungen die Hitliste der Infektionen an. Wie verhindern wir das Übergreifen auf die besonders gefährdeten Menschen und wäre durch kluge und fokussierte Maßnahmen ein Lockdown vermeidbar?

Die Erfahrungen der ersten Welle zeigen, dass insbesondere alte und chronisch kranke Menschen in den Mittelpunkt gehören.

Die gerade publizierte Studie aus dem Landkreis Waldshut zeigt, dass es dort im Zuge der ersten Welle eine Übersterblichkeit im Vergleich zu den Vorjahren gegeben hat. Diese zusätzlichen Toten sind danach zu 55% an oder mit Corona gestorben und es hat vor allem die Hochbetagten getroffen. 45% der Toten können hingegen als „Kollateralschaden“ bezeichnet werden. Sie starben zuhause und ohne Corona. Die Verbindung der Daten von Rettungsdienst und Klinikum legt die Vermutung nahe, dass es vor allem die älteren und chronisch Kranken waren, die den Kontakt zur Außenwelt, ihren Ärzten oder dem Klinikum gemieden haben.

Wir müssen uns also bewusst machen, dass es nicht nur wirtschaftliche und gesellschaftliche Nebenwirkungen und Spätfolgen gibt, es gibt auch harte und direkte Folgen. Die Angst blockiert und verhindert die situativ notwendigen Schritte, Hilfe zu rufen.  Die Dimension von fast 50/50 ist erstaunlich und zeigt wie kritisch wir den Nutzen eines Lockdown bewerten müssen.

Sehen wir uns die beiden politischen Ziele des Lockdowns noch einmal an: Die Überlastung der Gesundheitseinrichtungen vermeiden, und die Nachverfolgbarkeit der Infektionen durch die Ämter sicherstellen.

Sind die Ziele sinnvoll und wie bewerten wir die Entwicklungen?
Die Kliniken sollten alle Kranken versorgen können, das gelang in der ersten Welle so gut, dass die Ressourcen bundesweit nie an die Grenzen kamen. Die stationären Erkrankungsfälle und die Intensivkapazitäten im Blick zu halten und danach zu steuern, ist äußerst sinnvoll. In der Wahrnehmung der Menschen erfolgt das jedoch nicht. Es gibt keine Warnwerte der Belastung, an denen Maßnahmen festgemacht werden können.

Ziel 2 die Nachverfolgbarkeit der Infektionsketten.  Damit wird den Menschen zunächst mangelnde Einsicht attestiert und den Bedarf der Vormundschaft. Das trifft für viele Menschen zu, vielleicht hält man dort besser 3 Meter Abstand. Die Vorstellung jedoch, dass in adäquater Zeit auf Basis papiergebundener Erfassung der Kontakte auf Flughäfen, in Gaststätten etc. eine Nachvollziehbarkeit hergestellt werden kann, dazu fehlen transparente Auswertungen. Was soll denn auch der erweiterte Nutzen sein? Die Menschen in direkter oder erweiterter Umgebung werden getestet und in Quarantäne geschickt, Quarantäne in Eigenverantwortung. Warum können die positiv getesteten Menschen nicht aufgeklärt und aufgefordert werden, sich selbst zu isolieren und ihr Umfeld zu informieren und strikte Regeln zu beachten?

Müssen wir nicht akzeptieren, dass Covid-19 Teil unseres Lebens ist und bleiben wird? Sollten wir den Umgang, das Bewusstsein für den richtigen Zeitpunkt einer notwendigen ärztlichen Obhut schulen?

Was bringt die Überwachung und Dokumentation? Müssten wir die Menschen nicht stärker in die Verantwortung für sich selbst und die Mitmenschen nehmen und ihre Verhaltenskompetenz stärken?

Sowohl die Alten und chronisch Kranken, als auch die Gesunden, die Familien etc. sind für ihr Verhalten, ihre moralische Verantwortung und ihr persönliches Risiko verantwortlich.

Müssten wir ihnen dazu nicht viel stärkere Handlungsoptionen zum Selbst- und Fremdschutz erläutern und uns deutlich mehr anstrengen die Menschen zu erreichen?

Uneinsichtige werden auch unter den härtesten Auflagen Wege finden, ihre Unvernunft oder ihren Willen auszuleben und sie werden beginnen, die staatliche Macht und Bevormundung abzulehnen.  Noch ist unklar wie die Einordnung und Gewichtung der verschiedenen Wirkungen und Nebenwirkungen im gesellschaftlichen Kontext erfolgt, die nächsten Wochen werden spannend.

Zur vollständigen Publikation des Klinikum Hochrhein in englischer Sprache: https://doi.org/10.1101/2020.10.27.20220558

Die deutsche Fassung finden Sie hier:
https://jomec.de/beitrag/news/detail/News/corona-eine-analyse-der-uebersterblichkeit/

 

Dr. Hans-Peter Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt ist Experte für Krankenhäuser im Strukturwandel. Der Arzt und Manager gründete 1998 zusammen mit Dorit Müller die Unternehmensberatung JOMEC GmbH Healthcare Consulting+Management. Mit der Erfahrung von mehr als 25 Jahren in der Führung und Beratung im Gesundheitswesen will er nun mit dem Blog das Thema Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung setzen.