Belastungsgrenze / Gesundheitssystem / Jens Spahn

Offener Brief zur „stationären Patientenversorgung“

Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn,

auf diesem Weg möchte ich Sie über die zunehmend prekäre Situation in der stationären Patientenversorgung informieren und Ihnen die Konsequenzen der aktuellen Gesetzeslage aufzeigen. Sie werden nach dem Lesen dieses Schreibens hoffentlich mit mir übereinstimmen, dass in vielen Landesteilen die Bevölkerung zukünftig unter diesen Rahmenbedingungen nicht mehr adäquat versorgt werden kann. Viele Minister mussten die Auswirkungen Ihrer Gesetze nicht in ihrer Amtszeit erleben, aller Voraussicht nach trifft das auf Sie nicht zu. Insofern haben Sie die besondere Verpflichtung jetzt korrigierend einzugreifen.

Bei aller Wertschätzung für Ihren Grundgedanken die Pflegenden zu stärken, sind leider grundsätzliche Fehler oder Interpretationsspielräume entstanden. Die Einführung der Pflegepersonaluntergrenzen wird inzwischen von den Kostenträgern in Verbindung mit der Pflegekostenerstattung gleichzeitig als Personalobergrenze verstanden. Das berichten mehrere Kollegen aus unterschiedlichen Kliniken. Das bedeutet die Kostenträger erklären, dass sie nur die Kosten bis zu den Personaluntergrenzen tragen. Jede zusätzliche Stelle soll durch „wen auch immer“ finanziert werden. Diese Ableitung verkennt die in vielen Kliniken schlechten baulichen Rahmenbedingungen. Das kann einen höheren Personaleinsatz erfordern und auch der Umgang mit Mehrkosten aus Krankheit und dem Einsatz von Leasingkräften wird strittig transportiert.
Nach meiner Kenntnis ist vorgesehen, dass bei der Nichteinhaltung der Strukturvorgabe „Pflegepersonaluntergrenze“ Konsequenzen folgen. Sie propagieren bereits an vielen Stellen Konsequenzen bei Nichteinhaltung von Strukturvorgaben, aber ist eine Versorgung der Bevölkerung durch den Mangel an Fachkräften nicht insgesamt gefährdet? Ist es vielleicht besser die Patienten in einem suboptimalen stationären Setting zu versorgen, als zuhause ihrem Schicksal zu überlassen? Wer entscheidet und setzt die Prioritäten?

Durch die monatlichen Berichte der Personalsituation jeder einzelnen Station an die Krankenkassen wird der MDK ausrücken, um bei Unterbesetzung die Kostenerstattung zu kürzen. Das Prinzip „Untergrenze gleich Obergrenze“ bietet keinen Spielraum und wird den hausindividuellen Besonderheiten nicht gerecht und das bei einem bundesweiten Mangel an Pflegekräften.
Was passiert, wenn es im Falle einer Unterbesetzung zu kleinen oder großen Veränderungen des „Patientenbefindens“ kommt, ganz gleich ob durch Mitarbeiter oder Krankheit verschuldet? Den Verantwortlichen wird dann wohl Organisationsverschulden angelastet.
Diesem Risiko kann nur durch ein Aufnahmestopp entgegengewirkt werden.
Sie kennen die offenen Stellen allein in der Pflege; bis 2030 erwartet die Bertelsmann Stiftung einen Mangel von rund 500.000 Pflegenden, die Situation wird sich daher dramatisch verschärfen! Schon heute fehlen in allen Krankenhäusern Mitarbeiter in den patientennahen Berufen.

Schauen Sie in die Kliniken! Sie finden dort engagierte und unermüdlich für die Patienten ackernde Mitarbeiter. Die ambulante Versorgung bricht vielerorts schrittweise zusammen, unsere Mitarbeiter versuchen über die Notaufnahme oder persönliche Ermächtigungen die Defizite aufzufangen. Gleichzeitig müssen die stationären Patienten versorgt werden – auch wenn es mehr Patienten sind und der Stellenplan mangels verfügbarer Fachkräfte evtl. Lücken hat. Unsere Mitarbeiter hören sich dabei geduldig die Klagen und Beschimpfungen der Patienten zu den Wartezeiten an – nur wie lange noch?

Ihr Gesetz zwingt uns dazu die Menschen mit ihren Sorgen allein zu lassen! Unser Klinikum liegt an der Schweizer Grenze, die Gehaltsdifferenz ist erheblich, dennoch bleiben viele Mitarbeiter hier und wir kämpfen gemeinsam für den Erhalt der Versorgung und sind für die Patienten des Landkreises da. In der Konsequenz dieser unsäglichen gesetzlichen Mindestvorgaben werden wir heute und in der Zukunft immer wieder gezwungen sein Betten zu schließen und die stationäre Patientenaufnahme abzulehnen. Ist dies Ihr Ziel?

In der Folge werden sich Krankentransport und Rettungsdienst auf den langen Weg machen. In unserem Fall liegen die Alternativen, nach Schließung unseres zweiten Standortes, rund 40 km entfernt. Der Rettungsdienst ringt selbst um Personal für die Fahrzeuge, diese werden durch die zusätzlichen Wegezeiten deutlich weniger für Akutkranken- oder Verlegungsfahrten verfügbar sein. Mehr Fahrzeuge gehen nicht, denn auch dort fehlen Mitarbeiter. Eine Kette, durch die am Ende die Patienten zuhause ihrem Schicksal überlassen werden. Verpasste Lebenschancen, tragische Todesfälle oder die gezielte Zerstörung des letzten Restes unserer Gesundheitsversorgung?

Gesundheit ist ein existentielles Gut. Sollten Sie ernsthaft die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystem erhalten wollen, müssen Sie beherzt eingreifen und zwar jenseits des Lobbyismus und tradierter Denkmuster, dafür nah an der Versorgungsrealität.
Bei allem Enthusiasmus für die Digitalisierung, ohne funktionierende Kliniken im Zentrum der regionalen Gesundheitsversorgung werden die Menschen im Land verlieren und die Regionen ausbluten. An erster Stelle die Alten und Kranken, an zweiter Stelle die Mitarbeiter sowie an dritter Stelle die regionale Wirtschaft und der gesellschaftliche Frieden. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Grundhaltung der politisch Verantwortlichen gegenüber allen Mitarbeitern der Gesundheits- und Pflegeversorgung durch die Einstufung als „Lohnnebenkosten“ geprägt ist. Die Bedeutung einer vor Ort funktionierenden Gesundheitsversorgung und die aktuellen Realitäten werden nicht angemessen berücksichtigt. Zudem gibt es keine gesellschaftlich anerkannte gesundheitspolitische Vision! Hierzu fehlt es an einer transparenten und öffentlichen Diskussion. Die Menschen und Patienten müssen in den Mittelpunkt, denn Leistungsfähigkeit setzt Gesundheit voraus. Der Wert und die Bedeutung des Gesundheitssystems werden in erster Linie nach dem eindimensionalen volkswirtschaftlichem Zahlenwerk und einem vereinfachten zentralistischem Blickwinkel beurteilt.

Gerne stehe ich zur Diskussion dieser und vieler mit erheblichen Schwierigkeiten behafteten weiterer Themen, wie z.B. Umsetzung der generalistischen Ausbildung, Sicherstellung der ambulanten Versorgung und die ausufernde Bürokratie, in Berlin oder Waldshut, zur Verfügung.

 

Ihr,

H.-P. Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt ist Experte für Krankenhäuser im Strukturwandel. Der Arzt und Manager gründete 1998 zusammen mit Dorit Müller die Unternehmensberatung JOMEC GmbH Healthcare Consulting+Management. Mit der Erfahrung von mehr als 25 Jahren in der Führung und Beratung im Gesundheitswesen will er nun mit dem Blog das Thema Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung setzen.