Medizinrecht / Wolfgang Putz

Warum das Recht zu sterben, erkämpft werden muss | ein Interview mit Wolfgang Putz

Wolfgang Putz zählt zu den renommiertesten Medizinrechtsanwälten Deutschlands. Seit mehr als 40 Jahren vertritt er Patienten in Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüchen nach Behandlungsfehlern. Die Rechtsanwälte der Münchner Kanzlei Putz • Sessel • Steldinger haben sich darüber hinaus einen exzellenten Ruf in Rechtsfragen am Lebensende erworben. Hunderte von Klienten wurden bei der Durchsetzung ihres Patientenwillens begleitet. Am 25. Juni 2010 konnte eine Grundsatzentscheidung vor dem Bundesgerichtshof erstritten werden. Wolfgang Putz ist darüber hinaus anerkannter Experte für Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten.

Zuletzt vertrat Putz den bundesweit Aufsehen erregenden Fall Heinrich Sening. Der alte Herr war dement, konnte nicht mehr sprechen und sich bewegen. Er wurde im Pflegeheim mehrere Jahre mithilfe einer Magensonde künstlich ernährt und so am Leben gehalten. Die Brisanz des Falles Sening beruht darauf, dass das Leiden des Patienten so extrem war, dass selbst bei weitestmöglicher Beachtung des Grundsatzes im zivilen Haftungsrecht „im Zweifel für den beklagten Arzt“, diesem der Verstoß gegen den dementsprechend weiten Korridor des Facharztstandards vorzuwerfen war. Dieser Ermessenspielraum der jedem behandelnden Arzt zugestanden werden muss, wurde im Falle Sening eindeutig verlassen. Der Fall liegt weit außerhalb der Grauzone, so dass der Gerichtsgutachter die Bewertung als „Behandlungsfehler“ treffen musste.

Sein in den USA lebender Sohn verklagte nun den Arzt auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, weil dieser das Leiden von Heinrich Sening zum Lebensende unnötig verlängert habe. Eine Patientenverfügung lag allerdings nicht vor. Der Fall ging vom Oberlandesgericht München, dass dem Sohn Schmerzensgeld zusprach bis zum Bundesgerichtshof. Letzterer wies die Klage des Sohnes zurück. In einem Urteil vom 2. April dieses Jahres entschied der Bundesgerichtshof, dass Ärzte grundsätzlich nicht finanziell haften, wenn sie einen Patienten beispielsweise durch künstliche Ernährung länger als medizinisch sinnvoll am Leben erhalten und damit in Kauf nehmen, das Leiden zu verlängern.

Der Fall interessiert mich, wie viele andere Menschen auch und ich freue mich sehr, dass Wolfgang Putz mir für ein Interview auf meinem Blog zu Verfügung steht.

  • Herr Putz, der medizinisch-technische Fortschritt wird regelmäßig als Errungenschaft für unsere zunehmend alternde Gesellschaft ins Feld geführt. Sie haben aufgrund Ihrer anwaltlichen Tätigkeit einen etwas anderen Blick darauf. Müssen wir Menschen – insbesondere am Lebensende – vor dem medizinisch-technischen Fortschritt gar schützen?

Das kann man nicht generell beantworten, denn viele der Fortschritte im Bereich der Medizin sind ja sinnvoll. Natürlich müssen die medizinischen Fachgesellschaften mit der Festlegung des jeweiligen Facharztstandards die Patienten vor negativen Auswüchsen des medizinisch-technischen Fortschritts schützen. Das ist eine „objektiv“ gebotene Begrenzung ärztlichen Handelns!

Nur kann die Medizin heute vieles, gerade am Lebensende, was „objektiv“ vertretbar sein mag, was jedoch nicht den Wertvorstellungen von allen betroffenen Patienten entspricht. Dagegen müssen sich dann „Andersdenkende“ tatsächlich „subjektiv“, also persönlich schützen. Ohne entsprechende personenbezogene Vorsorge, etwa durch eine Patientenverfügung,  wird man die nach dem Facharztstandard „objektiv“ indizierte Behandlung erfahren.

  • Der Bundesgerichtshof urteilte in dem Fall Heinrich Sening: „Das menschliche Leben sei absolut erhaltungswürdig – das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu“. Dem gegenüber steht die Praxis der passiven Sterbehilfe, die Ärzten das Unterlassen, Reduzieren und Nichtfortführen von lebenserhaltenden Maßnahmen erlaubt, um das Sterben als natürlichen Prozess zuzulassen. Ein echtes Dilemma für die Mediziner! Heißt das, dass Sterbewillige davon abhängig  sind, je nachdem welcher Arzt sie behandelt?

Das Urteil des Arzthaftungssenats des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Frage, ob der Arzt für eine nicht indizierte leidensverlängernde Behandlung haftungsrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann (Schadensersatz /Schmerzensgeld), hat keine Auswirkungen auf die bisherige einheitliche Rechtsprechung zu den gebotenen Verhaltensweisen, also etwa Unterlassen, Reduzieren und Nichtfortführen von lebenserhaltenden Maßnahmen, um das Sterben als natürlichen Prozess zuzulassen. Der BGH hat den Arzt nur vor Haftung für insoweit fehlerhafte Behandlungen geschützt.

Das ist so, als ob man weiterhin in der Stadt 50 km/h fahren müsste, aber das Bußgeld abgeschafft würde. Das würden die Menschen natürlich als Freibrief zur Raserei missverstehen, ebenso wie das BGH-Urteil vom 2. April 2019 als Freibrief für nicht indizierte Leidensverlängerung missverstanden wird. Ein Arzt, der sich rechtlich und ethisch korrekt verhält, kommt nicht ins Dilemma. Natürlich sind die Aussagen, dass das menschliche Leben absolut erhaltungswürdig ist und kein Dritter den Wert des bewirkten Weiterleidens beurteilen darf, lediglich massivste und überschießende Begründungen (mit Schaum vor den Lippen), dass man selbst bei fehlerhafter Erzeugung solcher Leidenszustände, diese nicht als Schaden bezeichnen dürfe. Natürlich ist auch dies falsch. Aber es betrifft allenfalls die Frage, ob jemals ein Arzt für solche schweren Behandlungsfehler – und übrigens auch für die Missachtung von Patientenverfügungen – in die Haftung kommt. Dass er sich damit strafbar macht, tangiert dieses Arzthaftungsurteil ohnehin nicht!

  • Das Oberlandesgericht München sprach dem Sohn in erster Instanz noch ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 Euro zu. Der BGH ist dieser Argumentation nicht gefolgt. Warum nicht?

Der BGH hat sinngemäß geurteilt, egal wie fehlerhaft der Arzt das Leiden verlängert, sei es durch Missachtung des Facharztstandards, sei es durch Missachtung des Patientenwillens, in diesem Bereich gibt es keine Haftung! Es schauderte die Richter, das Leben als Schaden zu sehen. Sie verkannten, dass nicht das Leben, sondern das Leiden der Schaden ist.

Das erkennt die Rechtsprechung längst bei gleichermaßen geschädigten Kindern an, wo das „wrongful life“ sehr wohl zu Schmerzensgeld und Ausgleich des Vermögensschadens führt. In der gefestigten „Kind als Schaden – Rechtsprechung“ ist auch nicht das Kind oder das Leben sonders dessen Leiden der Schaden. Das wird dem hohen Wert des Lebens gerade gerecht und widerspricht ihm nicht.

  • Schützt eine Patientenverfügung tatsächlich vor einem verlängerten Leidens- und Sterbensprozess? Viele Menschen sind doch damit überfordert, die Verfügung so zu formulieren, dass alle medizinischen Eventualitäten umfassend abgehandelt werden.

Eine gut vorformulierte Patientenverfügung schafft das, was ein Laie tatsächlich mit eigenen Formulierungen in der Regel nicht bewirken kann: sie schützt vor künstlicher Leidensverlängerung am Lebensende und bewirkt ein humanes, palliativ begleitetes Sterben-Dürfen. Gute Texte bekommt man etwa in der Broschüre des C-H.-Beck-Verlages „Vorsorge für Unfall, Krankheit, Alter“, die es bundesweit im Buchhandel gibt, oder in Broschüren der Justizministerien von Bund und Ländern.

Leider kursieren viele schlechte, teils untauglich Texte! Manche sind vermutlich gezielt so formuliert, dass sie wirkungslos bleiben, weil die Verfasser Verfechter des absoluten Lebensschutzes sind. Dieser ist unserer Verfassung fremd. Das verkennt auch das BGH-Urteil vom 2. April 2019.

  • Der Fall Heinrich Sening lässt die Betrachtung zu, dass es vornehmlich darum ging, mit dem Patienten Einnahmen zu generieren. Ist es nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, in einem profitorientierten Gesundheitswesen sterbewillge Patienten zu schützen?

Zweifellos wird mit der Lebensverlängerung bundesweit Geschäft gemacht. Das ist nicht negativ, solange es nicht aus reinem Geschäftsinteresse und gegen das Wohl des Patienten, also ohne medizinische Indikation und/oder gegen den Willen des Patienten geschieht. Das ist dann kriminelles Handeln. Davor schützt das Strafrecht, das diese Geschäftsmodelle mit harten Strafen für alle Mitwirkenden bedroht. Davor sollten die Staatsanwaltschaften, die Heimaufsicht, die Ärzteaufsicht bei den Regierungen, die Berufsaufsicht bei den Ärztekammern, der Medizinische Dienst der Krankenkassen u. v. a. sterbewillige Patienten schützen. Die Instrumente sind also da.

Aber jene, die diese Instrumente pflichtgemäß einsetzen müssten, verfolgen diese Kriminalität nicht, weil es einfach nicht „gesellschaftsfähig“ oder „sozialverträglich“ erscheint, jemanden zu verfolgen, der ein menschliches Leben verlängert, selbst wenn es das pure Leiden ist. So können sich die Täter sicher fühlen, egal ob sie gedankenlos (fahrlässig) oder aus Profitgier (vorsätzlich) handeln. Das einzige Instrument, das die „Opferseite“ selbst in der Hand hat, ist eben die Schadensersatzklage. Deswegen haben wir das im Fall Sening erstmals durchexerziert, leider mit der Folge dieses nicht nachvollziehbaren Urteils. Wir haben dagegen Verfassungsbeschwerde eingelegt, so dass das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort hat.

Dr. Hans-Peter Schlaudt

Dr. Hans-Peter Schlaudt ist Experte für Krankenhäuser im Strukturwandel. Der Arzt und Manager gründete 1998 zusammen mit Dorit Müller die Unternehmensberatung JOMEC GmbH Healthcare Consulting+Management. Mit der Erfahrung von mehr als 25 Jahren in der Führung und Beratung im Gesundheitswesen will er nun mit dem Blog das Thema Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung setzen.